von Finja Heinisch und Christina Plotz
Es ist beschlossen − das »Deutschlandticket« kommt. Ein bundesweit gültiges Ticket für den Nahverkehr für 49 Euro pro Monat. Der „Nachfolger“ des 9-Euro Tickets eröffnet damit als monatlich kündbares und digitales Abo mit bundesweiter Geltung im Nahverkehr die neue Tarif-Ära. Was zunächst bloß als entscheidender Lichtblick im Tarifdschungel für Kund*innen erscheint, stellt die langjährigen Strukturen der Tarifwelt von Verkehrsbünden gänzlich auf den Kopf. Aber nicht nur das: Offen bleiben auch weitere Fragen. Wie gestaltet sich die Finanzierung? Welche Auswirkungen hat es auf die bisherigen Tarife? Und wie kann die Kundengewinnung und -bindung langfristig sichergestellt werden?
Als erfolgreicher Begleiter innovativer Projekte von Landestarifen über eTarife bis hin zu dem im letzten Jahr eingeführten KlimaTicket Österreich verfügen wir über Erfahrung mit solchen Revolutionen und wissen, was jetzt zu tun ist. Wir sehen daher viele Chancen und die folgenden Maßnahmen stehen daher im Fokus:
Zahlreiche Zeitkarten übersteigen derzeit weit den Preis von 49 Euro. Das lässt einen hohen Wechsel von bisherigen Monats-Abonnent*innen der Verbundtarife in das Deutschlandticket erwarten. Nutzer*innen erhalten dadurch nicht nur einen attraktiveren Preis, sondern auch einen um ein Vielfaches erweiterten Geltungsbereich.
Das Deutschlandticket ist aber keine Lösung für alle (potenziellen) Fahrgäste. Ersten Abschätzungen zufolge liegen die Monatsrechnungen von ca. 2/3 aller Fahrgäste (Kund*innen) unterhalb des Preises des Deutschlandtickets. Befragungen zeigen außerdem, dass sich selbst das 9-Euro Ticket für ca. 82 % der Nicht-Käufer*innen „finanziell nicht gelohnt hat“ (O.trend, 2022).
Aus ökonomischer Perspektive ist daher der Anreiz ins Deutschlandticket zu wechseln für Gelegenheitsnutzer*innen (Einzeltickets, Tageskarten, etc.) als gering einzustufen. Diese Fahrgäste werden somit größtenteils im Bartarif verbleiben. Nun gilt es, sie proaktiv für den ÖPNV zu gewinnen − wichtiger noch, zu binden. Dies muss über eine aktive Gestaltung des Bartarifs, d. h. von Einzel- und Tageskarten erfolgen. Ein ähnliches Bild ergibt sich auch für die Gruppe von Personen, die im Verlauf eines Monats bzw. Jahres sehr wechselhafte Nutzungsmuster zeigen, die sogenannte „Flex-Nutzung“, und daher keine Abos abschließen. Eine genauere Auswertung der Wanderungsbewegungen ist möglich und erfordert Informationen oder Annahmen zu den Warenkörben der Kund*innen.
Es bleibt abzuwarten, ob das Deutschlandticket im Rahmen der aktuellen Entwicklungen durch regionale Varianten preislich unterboten wird. Berlin bepreist den Nahverkehr derzeit mit 29 Euro pro Monat im lokalen Geltungsbereich. Varianten könnten auch für spezielle Zielgruppen, wie Schüler- oder Sozialtickets entstehen. Dann würde es umso wichtiger, das „restliche“ Sortiment aufzuräumen und sich auf Zusatznutzen von Verbundprodukten zu fokussieren.
Das Deutschlandticket lebt ganz klar von der Einfachheit und Transparenz – bundesweit, digital und vollflexibel. Die Frage ist, inwiefern der heutige Tarifdschungel mit dem Deutschlandticket konkurrieren kann (und soll) und wieviel Differenzierung für spezifische Zielgruppen einen zusätzlichen Mehrwert bringt. Im Vergleich zu einem derart einfachen Abo-Angebot wirkt ein hoch-differenzierter Bartarif in erster Linie abschreckend.
Die Balance zu halten zwischen dem Deutschlandticket als One-size-fits-all-Tarif und zielgruppenspezifischen Vergünstigungen mit Rücksichtnahme hinsichtlich sozialrechtlicher Überlegungen, stellt die zukünftigen Verbundtarife vor allem im Freizeit- und Gelegenheitsverkehr vor Herausforderungen. Insbesondere eTarife auf der Basis von Check-in/Be-out-Systemen bergen großes Potenzial für einfache Produkte ohne Waben und Zonen für alle, die kein Deutschlandticket benötigen oder kaufen wollen. Sie können hierzu den Zugang vereinfachen und bieten den Gelegenheitsnutzer*innen Transparenz sowie leistungsgerechte Preise.
ÖPNV ist heute mehr als „nur“ Bus und Bahn. Wir sehen die Förderung multimodaler digitaler Verknüpfungen ganz oben auf der Agenda. Für Verkehrsverbünde bedeutet dies, Kundenbindung zusätzlich durch die Integration von Shared Mobility Angeboten zu bewirken. Anhand von Zusatzleistungen kann ein regional attraktives Angebot geschaffen und sich somit vom Deutschlandticket abgehoben werden. Auch eine mögliche erhöhte Zahlungsbereitschaft seitens der Kunden*innen, aufgrund des Absenkens des ÖV-Tarifs, bietet Upsellingpotenzial für Verkehrsunternehmen. Dies geht einher mit dem Potenzial sich von einem Tarifverbund in Richtung eines Mobilitätsverbundes weiterzuentwickeln. Damit eröffnet sich die große Chance, die Tarifgestaltung zunehmend in den Hintergrund rücken zu lassen und frei gewordene Kapazitäten hin zu anderweitigen Aufgaben zu verlagern.
Fest steht: Neben der finanziellen Entlastung für Verbraucher*innen ist die große Chance des Deutschlandtickets die Schaffung einer niedrigen Einstiegshürde ins System und die Attraktivitätssteigerung des ÖPNV. Damit kann das Deutschlandticket wie nie zuvor zur Erreichung der angestrebten Klimaziele beitragen.
Ob Letzteres in Kraft tritt, bleibt vorerst abzuwarten. In jedem Falle − ob echter Umstieg auf nachhaltige Verkehrsmittel oder vielmehr eine preisliche Entlastung für Jetzt-schon-Häufignutzende − wir empfehlen eine wissenschaftliche Begleitung zur Untersuchung der Auswirkungen des Deutschlandtickets. Sofern in digitaler Form umgesetzt, birgt dies großes Potenzial zur Datenerhebung bundesweiter Verkehrsströme. Erforderlich dafür ist eine frühestmögliche Kommunikation, welche aus unserer Sicht mit ökonomischen Anreizen in die Wege geleitet werden sollte. Verkehrsverbünde müssen außerdem die neu erhaltene und vor allem durchweg positive Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf die Innovation im Mobilitätssektor nutzen, um weitere „Good News“ für ihr ÖPNV-Angebot zu platzieren.
Ob schöne neue Tarifwelt oder erst der Anfang eines grundsätzlichen Umstrukturierungsprozesses − das Deutschlandticket beantwortet noch längst nicht alle Fragen für einen einfachen und zukunftsfähigen Tarif sowie Vertrieb im öffentlichen Nahverkehr. Wie sich das Thema rund um die preisliche Ausgestaltung im Laufe der Zeit entwickeln wird, hängt auch vom Gestaltungswillen der Verkehrsverbünde ab.
Gern greifen wir auf unsere langjährige Erfahrung zurück und helfen Ihnen gemeinsam Ihre Tariflandschaft zu revolutionieren.
31. Dezember 2022